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Im Zickzackkurs umrunden wir auf zwei Kufen ein wahres Labyrinth aus bunten Fischerbojen, unter denen tief am Grund des Meeres Hummerkästen liegen. Das Meer vor der Küste Maines ist mit diesen bunten „Akupunkturnadeln“ scheinbar gepierct und die Navigation durch diese Gewässer erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit. Dass wir seit dem Blitzeinschlag im Juni  keinen Autopiloten zur Verfügung haben, stört uns auf diesem Törn entlang der „Lobstercoast“ bis zum Arcadia Nationalpark am wenigsten, denn bei den vielen Hindernissen wird ohnehin nur aus der Hand gesteuert. Unablässig halten wir Ausschau nach einem geeigneten Weg durch dieses Labyrinth, vor dem uns die Seglergemeinschaft bereits in der Karibik gewarnt hatte. Als ich plötzlich eine Haifischflosse an Steuerbord aus dem Wasser ragen sehe! Oder ist das doch etwas anderes? Die Flosse wackelt eher wie ein Hundeschwanz hin und her,  und treibt geradezu unmotiviert dahin. Da sehe ich ein Zyklopenauge in der Mitte eines Körpers, das mich an einen riesigen Mühlsteins erinnert. Betrachtet es uns neugierig? Es stellt sich heraus, dass dieses mysteriöse Wesen, ein schwimmender Kopf mit angewachsener Schwanzflosse, unsere allererste Begegnung mit einem Sunfish,  lateinisch Mola mola, (von mola „ Mühlstein“), oder im deutschen Sprachgebrauch Mondfisch ist. Dieser riesige platte Fischberg kann bis zu 2,3 Tonnen wiegen und ist der größte Knochenfisch im Meer, ernährt sich zumeist von Quallen, kleineren Fischen und Tintenfischen. „Ob man den essen kann?“ fragen sich die Fleischesser unter uns und tatsächlich wird diese Spezies in Japan, Korea und Taiwan als Delikatesse in Restaurants serviert. Die weiblichen Tiere laichen pro Laichvorgang erstaunliche 300.000 Eier ab - mehr als jede andere Fischart. Auf unserer Reise durch die Inselwelt Maines werden wir diesen geheimnisvollen Kreaturen noch sehr oft begegnen.

Wir haben knapp 3 Wochen Zeit und starten am 25.07.2019 von Boston in Richtung Porthmouth und Portland. Vorbei an Cape Anne, eine in den offenen Atlantik hineinreichende Halbinsel. Unser erster Stop ist Rock Habour und obwohl das Wasser nur 17 Grad kühl ist, genießen wir den Sprung ins Naß. Wir entdecken in Rockport mit den Fahrrädern den Fischerort und das Motif No.1, einen rotbemalten Fischerschuppen mitten im Hafen, der als Wahrzeichen auf einer US-amerikanischen 34-Cent-Briefmarke  verewigt wurde. Auf dem Wochenendmarkt treffe ich Erin, eine Umweltaktivistin mit ihrer Skulptur „Wave of Trash“ also Müll, den sie mit ihren Surfkids aus dem Meer gefischt hat. Ich zeige ihr Bilder von unserer Müllsammelaktion an den Stränden der unbewohnten Insel Santa Luzia auf den Kapverden und erfahre mit ihr diesen besonderen gemeinsamen Spirit, Verantwortung für unsere wunderschöne Erde zu übernehmen, auch wenn es nur der berüchtigte Tropfen auf dem heißen Stein sein mag.

Joya segelt mit dem Gennaker nach Portsmouth, dem einzigen maritimen Tor von New Hampshire. Der Piscataqua River stellt sich als ein Gezeitenstrom dar, den wir beim Ankermanöver vor der City gewaltig unterschätzen. Es gelingt uns nur sehr schwer, im Strom die ausliegende Mooring zu ergreifen und Joyas Motoren leisten Schwerstarbeit. Beim Greifen der Boje zerbricht auch noch unser kostbarer Hook und treibt mit den Fluten davon. Als der Strom kentert, tritt Ruhe ein und wir fahren an Land. 

Je näher wir kommen, desto mehr schallt uns Musik entgegen. Wir erkennen Melodien aus Walt Disneys Film „ Beauty and the Beast“. An der Uferpromenade wird gerade für viele begeisterte Familien ein Openair-Musical aufgeführt.  Wir schlendern am Strawberry Banks - Museum vorbei und erfahren, dass sich 1630 die ersten englischen Siedler am Flussufer, das mit wilden Erdbeeren bewachsen war, niederließen. Aus Strawberry Banks wurde mit zunehmendem Schiffsbau und der Holzindustrie später „Portsmouth“. 

Am nächsten Tag packen wir die schmutzige Wäsche in Koffer und machen uns auf den Weg zum öffentlichen Waschsalon, denn seit dem Blitzeinschlag funktioniert auf der Joya auch die Waschmaschine nicht mehr. Im Rhythmus von Waschen und Trocknen erkunden wir die Stadt. In den Kittery Outlets gibt es neue Kleidung für das Skipperpaar. 

Bei schönstem Wetter umrunden wir den zerklüfteten Felsvorsprung von Cape Elizabeth und bewundern den  fotogenen Leuchturm, das Portland Head Light, bevor Joya vor dem Old Port erneut den Anker fallen lässt. Vor der Waterfront entdecken wir überall Verbotsschilder, mit teilweise drakonischen Bußgeldern für das unerlaubte Anlegen mit einem Dinghi. Little Joya muss lange suchen, bis wir eine Nische finden können und an Land springen. Herz und Seele dieser Stadt finden wir in dem Straßenkünstler Rick, einem kleinen Mann mit zerzaustem weißen Haar unter grauem Filzhut: „Can I offer you a poem?“ fragt er und entblößt mit seinem freundlichen Grinsen eine beachtliche Anzahl brauner Zahnstumpen. Das ungewöhnliche Angebot gefällt uns sehr und Rick legt los. Er erzählt von seiner Wanderschaft durch Deutschland in den 70iger Jahren, das Fahren mit der „ Wochenendkarte“ von Nord nach Süd und rezitiert dabei Hölderlin und Nietzsche. Für uns Segler hat er folgendes Gedicht parat, dass er mit großer Geste vorträgt:

„ The chase and search I learned to find 

and since the wind always blows in my face - 

I sail with every wind.“ 

Am Schluss bedankt er sich bei uns, denn unsere Begeisterung  habe ihn so beflügelt, dass es nur so aus ihm herausgeströmt sei. Wir verabschieden uns nur ungern von Ricks Weisheiten und Anekdoten. 

Am folgenden Tag legt Joya mit gebunkerten Vorräten und einer neuen Crew ab und setzt die Segel Richtung Cliff Island. Ziel sind einsame Inseln im Atlantik und der Acadia National Park. Auf Cliff Island erleben wir mit dem letzten Licht des Tages einen atemberaubenden Sonnenuntergang, den wir vom Kayak und Stand Up Paddelboard aus sehr genießen. Die Schattierungen der untergehenden Sonne mit besonders intensiven Rottönen werden wir in der Idylle der Inselwelt an fast jedem Abend erleben. Auf Monhegan Island müssen wir erst eine steile hohe Holzleiter erklimmen um an Land zu gelangen, denn Tidenhub ist wirklich beeindruckend. Im Jahr 2010 lebten hier 69 Einwohner in 40 Haushalten. Wir schlendern durch das Dörfchen und bewundern die blühenden Gärten. In der Kirche am Ende der Dorfstraße gibt es heute einen kulturellen Leckerbissen: eine Lesung von Lois Lowry. Die preisgekrönte Autorin hat mehr als 30 Bücher für Kinder und Jugendliche geschrieben, „The Giver“, auf Deutsch „Hüter der Erinnerung“ ist sogar verfilmt worden.  Sie lebt zwischen Cambridge und ihrem Farmhaus in Maine. Mit einem neuen Buch unter dem Arm lassen wir uns zum Dinner im stimmungsvollen Monhegan House nieder. Während wir die einheimische Küche genießen, sammeln sich draußen auf der malerischen Anhöhe die Hobbykünstler mit dem Pinsel in der Hand und warten auf den Showdown eines weiteren unvergesslichen Sonnenuntergangs. 

Isle la Haut ist das nächste Ziel unseres Törns. Wir ankern vor dem kleinen unbewohnten Flake Island. Unser Landgang am frühen Abend endet abrupt durch hungrige Mücken, die in Wolken über uns herfallen. Erst am nächsten Tag trauen wir uns zurück und wandern durch die Wälder des Arcadia Nationalparks. Zwischen Moosen und Flechten leuchten die Blaubeeren hervor und begeistert sammeln wir die köstlichen blauen Perlchen in die kurzerhand in ein Sammelgefäß umfunktionierte Wasserflasche. Wie schon unsere Urahnen gehen wir mit Feuereifer auf die Jagd nach „Beeren“. Zurück auf Joya gibt es nach altem Familienrezept köstliche Blaubeerpfannekuchen. 

Inzwischen zeigt die Wassertankanzeige gegen Null, auch eine Folge des Blitzeinschlags. Ein nicht funktionierender Generator bedeutet auch, dass wir selbst kein Meerwasser filtern können. Mit der Flut nähern wir uns dem Steg und die freundlichen Einheimischen von Isle la Haut reichen uns den Schlauch um 2 mal 600 Liter Frischwasser in Joyas Tanks zu füllen. Unsere Reise führt uns zur unbewohnten Seal Island wo wir sogar Papageientaucher beobachten können. Robbenfamilien, die man von Ferne für eine Gruppe kahlköpfiger Männer im Hammam halten könnte, schauen neugierig in unsere Richtung. Am Spätnachmittag erreichen wir Matinicus. Nach längerem Fußmarsch über die menschenleer wirkende Insel  freuen wir uns über eine Fish and Chips-Bude mitten im Grünen und wir schmausen an rustikalen Holztischen unter freiem Himmel. Auf dem Rückweg zum Hafen entdecken wir  ein einsames Häuschen. Es ist die Dorfbücherei, kleiner als eine Garage, aber mit freiem W-LAN! Still stehen wir alle mit gezücktem Handy zwischen Blumen und verschicken virtuelle Postkartengrüße durch den Äther. Als nächste Etappe steht der Besuch von Boothbay Harbour an. Wir bummeln an bunt getünchten Häuser entlang, sitzen in Restaurants, die umfunktionierte ehemalige Lagerschuppen sind und auf Pfählen an der Wasserkante stehen. Wir besuchten das Opernhaus und eine Galerie und erfreuen uns an hübschen kleinen Geschäften. In einem Geschäft erwerbe ich ein handgefertigtes Schneidebrett aus den Bäumen Maines für Joyas Kombüse, und entdecke eine ganze Verkaufsscheune mit einem erstaunlichen Mix aus magischen, spirituellen und religiösen Gegenständen aller Art. Zauberzubehör, das Harry Potter begeistert hätte, dazu Heilkarten, Magisches für das Eigenheim und den Garten, kostbare Edelsteine und Kristallschädel aus Brasilien, es ist einfach unglaublich! 

In Port Clyde machen wir Jagd auf die Krustentiere. In einem der Lobster Pounds sitzen wir wie die Panzerknacker am Tisch und rücken dem Lobster zu Leibe. Sie werden im Meerwasser gekocht - angeblich ist dies eine schnelle Todesart. Im Internet kann man nachlesen, dass in der  Schweiz beschlossen wurde, dass Krustentiere vor der Tötung im kochenden Wasser per Elektroschock betäubt werden müssen. Hoffentlich beherzigen das auch die lokalen Küchenmeister! Um das Drumherum auf meinem Teller schert sich der Koch wenig, es wird eine halbe Kartoffel und ein Stück Mais aufgelegt, denn der Lobster steht im Mittelpunkt. Wir haben Lätzchen bekommen, ein Utensil, das es anzuwenden gilt, denn als die Schalen krachen, spritzt der Saft in hohen Bögen.

Langsam nimmt Joya wieder Kurs auf Boston. Eine herrliche Ferienzeit mit Familie und Freunden geht ihrem Ende entgegen. Wir nehmen Abschied von der Hummerküste mit den unzähligen Fischerbojen und Leuchttürmen, der einsamen und verträumten Isle au Haut, die 85 Seemeilen von der kanadischen Grenze entfernt liegt und damit der nordöstlichste Punkt unserer USA-Reise mit Joya markiert. Wir sind dankbar für das herrliche Wetter, die spektakulären Sonnenuntergänge, und dass wir nur einmal eine Fischerboje in der  Schiffsschraube hängen hatten. Ab Boston nehmen wir unsere Kinder an Bord und werden mit Ihnen an Cape Cod vorbei durch den Long Island Sound nach New York segeln.